Am 6. Juni können die StimmbürgerInnen in St.Gallen und im Thurgau über etwas abstimmen, das zu einem neuen Ostschweizer Frühling werden könnte.
Für viele Menschen – Olma-Besucher vielleicht ausgenommen – hört die Schweiz von Westen her gesehen auch heute in Winterthur auf. Ergibt sich aber die Gelegenheit, Gästen beispielsweise das Zentrum der Stadt St.Gallen zu zeigen, so eröffnen sich innert weniger Stunden Perspektiven, die beeindrucken und auch den Ostschweizer Gastgeber selber immer wieder verblüffen. Zum Beispiel der kleine urbane Rundgang vom Weltkulturerbe Stiftsbezirk über das Stadthaus und die Altstadt zum Textilmuseum und von dort über die Stadtbibliothek in der Hauptpost und den Bahnhof zur Lokremise: Da stösst man, Baustellen hin oder her, auf Manifestationen der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Ostschweiz, die in dieser Verdichtung herausragend sind. Die Stiftsbibliothek ist eine der schönsten Bibliotheken der Welt und steht für den Beitrag des Klosters St.Gallen zur Entwicklung der abendländischen Schriftkultur. Bemerkenswert sind auch die religionsgeschichtlichen Gegensätze auf engem Raum. Das Kloster war seit der Reformation bis zu seiner Aufhebung vollständig von der reformierten Stadt umschlossen. Und diese wieder vom fürstäbtischen Territorium. Die enge Verzahnung der wirtschaftlich erfolgreichen Reichsstadt und des kulturell bedeutenden viel älteren Klosters erzeugte über Jahrhunderte hinweg eine besondere Spannung, die noch heute spürbar ist, wie Stefan Sonderegger, Archivar der Ortsbürgergemeinde St.Gallen, kürzlich formulierte.Dynamik der Industrialisierung
Den wirtschaftlichen Aufstieg verdankte die Stadt dem Leinwandgewerbe und dem Leinenhandel. Damit löste sie im 15. Jahrhundert Konstanz als führendes Wirtschaftszentrum des ganzen Bodenseeraums ab. Das war wiederum die Basis dafür, dass die Ostschweiz später mit Appenzell Ausserrhoden, dem Toggenburg, dem Fürstenland, grossen Teilen des Rheintals und des Thurgaus und dem Zentrum St.Gallen in Europa zu einer der am frühesten stark industrialisierten Regionen wurde. Ulrich Bräker, der arme Mann vom Toggenburg, war im 18. Jahrhundert einer der wichtigsten Zeugen dieser grossen Umwälzungen.
Im 19. Jahrhundert wurde die Ostschweiz in der Dynamik der Industrialisierung nach heutigen Massstäben ein eigentliches Silicon Valley. Aus der Stickerei-Industrie entwickelte sich die Maschinenindustrie. In der Zeit vor dem ersten Weltkrieg war die Stickerei-Industrie der wichtigste schweizerische Exportzweig überhaupt. Zeugen davon sind quer durch die Ostschweiz und insbesondere in der Stadt St.Gallen sichtbar. Es ist kein Zufall, dass nicht nur der erste Fussballclub der Schweiz, sondern auch das erste Volkshaus und das erste Volksbad in St.Gallen entstanden.
Man kann sich fragen, weshalb diese grosse Vergangenheit der Ostschweiz in der Innen- wie der Aussenwahrnehmung bis heute unterbelichtet oder aber ein Geheimtipp geblieben ist. Richtig ist sicher, dass die wirtschaftliche Katastrophe des Zusammenbruchs der Stickerei-Industrie, die sich seit dem Ersten Weltkrieg und der grossen Stickereikrise nie mehr richtig erholte, mental bis heute nachwirkt. Ausdruck dieser mentalen Blockade war zum Beispiel, dass in St.Gallen das 2001 fällige 250-Jahr-Jubiläum der Stickerei kein Thema war. Obschon diese Industrie in der Ostschweiz einst 70‘000 Personen beschäftigt hatte. Auf diese Unterlassung, die an Verdrängung grenzt, machte seinerzeit Peter Stahlberger aufmerksam.
Die Kultur ist à jour
Dabei ist die Bedeutung der Ostschweizer Stickerei gut aufgearbeitet. Herausragend und in ihrer Art wegweisend sind Albert Tanners Geschichte der Ostschweizer Weber, Sticker und Fabrikanten („Das Schiffchen fliegt, die Maschine rauscht“, 1986), eines der schönsten Schweizer Geschichtsbücher überhaupt, auch weil es die einfachen Menschen mit ins Zentrum stellte, und Peter Röllins Buch „Stickerei-Zeit“ (1989). In jüngster Zeit entsteht ein neues Bewusstsein. Eric Häusler und Caspar Meili werfen im Neujahrsblatt 2015 einen neuen Blick auf die im Weltmassstab exemplarische Geschichte und fragen, ob der Zusammenbruch wirklich so zwangsläufig und schicksalshaft war wie er wahrgenommen wurde, oder ob es auch hausgemachte wirtschaftspolitische Gründe dafür gab („Swiss Embroidery. Erfolg und Krise der Schweizer Stickerei-Industrie 1865-1929). Ein Vergleich mit der Uhrenindustrie wäre tatsächlich erhellend. Neue Firmengeschichten (Heberlein Wattwil; „Sticken und beten“ über Jacob Rohner in Rebstein) werfen Schlaglichter auf eine vielfältige und farbige Geschichte und sind weitere Beispiele dafür, dass eine neue Wahrnehmung entsteht.
2017 soll zur Geschichte der Textilindustrie in verschiedenen Ostschweizer Museen erstmals eine vernetzte Ausstellung gezeigt werden. Das ist ein qualitativer und quantitativer Sprung für die Ostschweiz und die Selbstwahrnehmung dieser gemeinsamen grossen Industriegeschichte. Man kann auch gespannt sein, ob das bevorstehende Vadian-Jubiläum zu einem neuen Verständnis der für die Entwicklung von Stadt und Region entscheidenden Reformationsgeschichte führt. Bei der Stiftsbibliothek stehen die Zeichen ausserdem gut, zu einem neuen Zentrum für Schrift- und Klostergeschichte zu werden.
Die Politik erstarrt in Kleinmut
Was kulturell aufzubrechen beginnt, ist politisch allerdings noch kaum angekommen. Kulturell ist gerade die Stadt St.Gallen sehr lebendig und wird von vitalen Institutionen geprägt, von Theater und Museen bis zu den jüngeren Gründungen wie Grabenhalle, Kinok und Palace. Ihre kulturellen Angebote sind im Vergleich von Städten dieser Grösse weit überdurchschnittlich. Auch die HSG hat sich von der Handelshochschule zur Universität emanzipiert und mindestens in Teilbereichen Leuchtturmcharakter. Auch sonst ist die Bildungslandschaft vielfältiger geworden, wenn es auch, beispielsweise im Kreativbereich, Entwicklungspotenzial gibt.
Politisch dominiert hingegen Kleingeist. St.Gallen und die Ostschweiz fehlen – wenn auch hoffentlich nur vorläufig – auf der Karte der neuen nationalen Innovationszentren, weil die Verantwortlichen nicht imstande waren, ein brauchbares Projekt zu entwickeln. Auch bei den schweizerischen Metropolitanregionen, einer wichtigen Planungsgrösse für Infrastrukturentscheide, hört die Schweiz gegen Osten bisher in Zürich auf. Obschon die Ostschweiz als grenzüberschreitende dynamische Wirtschaftsregion die Voraussetzungen dafür erfüllen würde. Auch hier muss noch viel dafür getan werden, damit sich dies ändert. Ein Haupthindernis dafür sind aber immer wieder auch Verantwortliche in der Ostschweiz selber. Der vorläufige Schluss- und Tiefpunkt dieser kleinmütigen Entscheide war, nach jahrelangen Vorarbeiten, das Nein des St.Galler Kantonsrats zum Klanghaus im Toggenburg. Allerdings könnte auch dieser Entscheid wieder positiv gedreht werden, wenn eine Volksbewegung für die Musikförderung aus dem Toggenburg der Politik die Richtung aufzeigen würde. Im Falle der grossen Publikumsbibliothek in der Hauptpost kam es vor wenigen Jahren zu einer solchen positiven Wende.
Gute Ausstellungen sind Augenöffner
Was heisst das alles nun für den Entscheid über die Expo 2027? Der Schlüssel dafür ist nicht Bundesbern, das später für die grossen Kredite gefragt ist, sondern die Ostschweiz selber. Dafür braucht es die Überwindung mentaler Blockaden. Und das Öffnen der Augen. Für die grosse Vergangenheit und die enormen Potenziale der Zukunft. Gute Ausstellungen sind Augenöffner.
Von der Expo 2027 steht noch nicht viel. Die Konzeptidee des Siegerprojekts ist aber vielversprechend. Die Konzentration auf drei Landschaftsräume Berg, Kreuzung/Stadt und See, verbunden durch drei Eisenbahnringe, überzeugt. Dass das städtische Zentrum mit Drehscheibenfunktion in Winkeln liegen soll, hat Witz. Es liegt an einem Ort, wo städtische Entwicklung heute, mit einer starken Verkehrsdynamik, real stattfindet.
Die Schweiz ist, wie die neue „Geschichte der Landschaft in der Schweiz“ von Jon Mathieu und anderen aufschlussreich zeigt, ein europäisches Landschaftslabor. Siedlungsgebiete mit hoher Wirtschaftsleistung, produktive Landwirtschaft und Bergregionen liegen nahe beieinander. Die Ostschweiz ist dafür geradezu typisch. Von grosser Bedeutung sind die Dreiländerecken. Auch dafür bringt die Bodenseeregion besondere Voraussetzungen mit.
Blick über die Grenzen hinaus
Eine Expo wird dann gelingen, wenn sie den Blick über die nahen Grenzen öffnet. Der Bodensee war, wie Arno Borst („Mönche am Bodensee“) gezeigt hat, ein wichtiger spiritueller Raum und ein Schnittpunkt der europäischen Geschichte des Mittelalters. Über sehr lange Zeit war der ganze Bodenseeraum wirtschaftlich und kulturell eng verflochten. Erst in der Zeit der Nationalstaaten und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg begannen die Menschen, sich mit dem Rücken zum See zu orientieren.
Eine Expo Bodensee-Ostschweiz eröffnet die Chance, dass die Ostschweiz vom vermeintlichen Rand wieder in die Mitte rückt. Das nicht nur für die Besucherinnen und Besucher aus anderen Regionen. Sondern vor allem auch im eigenen Selbstverständnis. Voraussetzung dafür ist eine Expo als offener Prozess, als Labor, in dem neu nachgedacht wird über diesen Raum, seine Geschichte und seine Zukunft.
Die letzte Expo 2002 im Drei-Seen-Land wurde – trotz erheblicher Startschwierigkeiten – ein grosser Erfolg. Sie hat dazu beigetragen, einer Region, die zuvor im Krisenmodus unterwegs war, neue Perspektiven zu eröffnen.
Die Ostschweiz steht wirtschaftlich an einem anderen Ort als die Region, welche die Expo 2002 getragen hat. Das Potenzial für eine erfolgreiche Expo 2027 ist aber nicht kleiner. Die Ausstellung kann Vorstellungsräume öffnen und Zusammenhänge schaffen. Für die Ostschweiz und den Bodenseeraum kommt sie genau zum richtigen Zeitpunkt.