«Wir kämpfen bis wir frei sind»

Der Frauen*streik 2019 wird wieder in die Geschichte eingehen. Wie geht es jetzt weiter? 

Es ist der 14. Juni 2019, etwa 11 Uhr. Auf der Marktgasse St. Gallen steht ein grosses Zelt, das die ganze Breite der Gasse und etwa ihre halbe Länge einnimmt. Auf dem Zelt steht «Streikplatz». Darin stehen bislang nur die Helfer*innen, richten die Bar ein, hängen die letzten Plakate auf und testen die Infrastruktur. Doch langsam kommt ein Lärm auf, der dann immer lauter und lauter wird, bis eine Gruppe von Frauen* wie eine Welle durch eine Seitengasse in den Streikplatz bricht. Die anwesenden Helfer*innen rufen und klatschen laut, die Frauen* begrüssen sich herzlich, manche fallen sich in die Arme. Es ist der Sternenmarsch, der aus verschiedenen St.Galler Quartieren, aus Wil, aus Rorschach ins Stadtzentrum drängt. Und mit ihm tausende Frauen*.

Mir standen während dem Frauen*streik zweimal die Tränen in den Augen: Das erste Mal, als ich diesen riesigen, lauten, freudigen Frauen*-Zug in der Marktgasse ankommen sah. Das zweite Mal während der Demonstration. Ich lief an der Spitze des Zuges mit und hatte so kein wirkliches Gefühl für dessen Grösse. Entsprechend geschockt war ich, als wir beim Bahnhof vorbei waren und wieder zurück zum Marktplatz liefen – und auf der Höhe Kantonalbank in einer anderen Seitengasse den hinteren Teil unserer eigenen Demo sahen. Jemand rief «Lueg! Oh mein Gott!», dann brach wilder Jubel aus und viele Frauen* um mich herum verloren kurz genauso die Fassung wie ich. So ein riesiges Zeichen für den Feminismus hatten wir geschafft!

Das Tagblatt sprach von 4000 Teilnehmenden, ein Polizist von 5500, und einige Anwesende schworen auf über 7000. So oder so, es war eine der grössten politischen Aktionen, die unser Kanton je gesehen hat – grösser als jeder 1. Mai und jede Klimademo. Möglich war das nur wegen unzähligen Stunden Freiwilligenarbeit von hunderten Frauen*, die mit Engagement, Sorgfalt und auch Durchhaltevermögen seit Dezember diesen Tag vorbereiteten.

Das hat sich gelohnt. Mit diesem überwältigenden, bewegenden Streik haben wir wieder einmal Geschichte geschrieben. Aber wie auch viele Frauen* in ihren Reden nach der Demonstration betonten: Das war erst der Anfang! Der Frauen*streik ist Zeichen einer neuen feministischen Welle, die jetzt ihren Weg in die Mitte der Gesellschaft finden muss. Dazu können wir alle einen Beitrag leisten:

Am Wichtigsten ist es, dass das politische Momentum aufrechterhalten wird. Die erst letzte Woche frisch publizierten Statistiken zur bleibenden Ungleichheit von Frauen zeigen, dass es extrem viel zu tun gibt. Dazu sind wir aber auf ein breites feministisches Netzwerk angewiesen, dass wir auch bei zukünftigen Aktionen wieder aktivieren können – ohne zuerst eine halbjährige Aufbauarbeit leisten zu müssen. Es ist darum meine Hoffnung, dass jede Frau*, die am Frauen*streik teilgenommen hat, bleibend politisch engagiert und organisiert wird. Zum Beispiel als Mitglied in einer feministischen Gewerkschaft, Partei oder anderen Organisation!

Zumindest bei jeder Wahl und jeder Abstimmung muss frau zur Stelle sein. Wir müssen unsere gesammelte politische Kraft nutzen, um bei den nächsten Nationalratswahlen im Herbst und den Kantonsratswahlen im nächsten Frühling die Parlamente zu erschüttern. Wir müssen Frauen* wählen, die aktiv bei der Organisation des Frauen*streiks beteiligt waren, und die aus Parteien kommen, welche den Streik unterstützt haben. Dazu gehört allen voran die SP: Konsequent kämpfen wir seit über hundert Jahren für Feminismus und die Gleichstellung. Schon in den Sessionen vor dem Frauen*streik reichten unsere SP-Parlamentarier*innen auf kantonaler wie nationaler Ebene Vorstösse ein bezüglich Lohngleichheit und Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Dem gegenüber findet sich aber eine Mehrheit an bürgerlichen Politiker*innen, welche Genderfragen belächeln, ignorieren oder sogar aktiv blockieren. Sie sind bei den nächsten Wahlen genauso unwählbar wie die bürgerlichen Parteien an sich, die den Frauen*streik kleinreden oder schwächen wollten.

Zuletzt muss jede und jeder von uns weiterhin Farbe bekennen für den Feminismus. Egal, ob man das eigene Umfeld aktiv zu überzeugen versucht, beim nächsten sexistischen Vorfall sofort eingreift oder einfach nur weiterhin einen Frauen*streik-Pin trägt. Wir müssen die Menschen davon abhalten, den Frauen*streik jemals wieder zu vergessen.

Auswertungssitzung zum Frauen*streik (nur für Frauen*): 1.9., 14 Uhr, im Katharinensaal St. Gallen.

 

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